Donnerstag, 28. Juni 2012

Reisen bildet

Trotz meiner kaum veränderten körperlichen Einschränkungen mache ich mich verspätet auf meine seit langem geplante Reise noch Norddeutschland.

In der Dialysestation der niedersächsischen Kleinstadt sammle ich ganz neue, positive Erfahrungen. Noch nie zuvor habe ich einen Stationsarzt in solch einer Einrichtung erlebt, der sich soviel Zeit für aufklärende Gespräche mit seinen Patienten nimmt wie hier. Wir reden über meine Perspektiven und Alternativen zur Dialyse, wie Nierentransplantationen mit ihren Vor- und Nachteilen, meinen (fehlenden?) Voraussetzungen für solch einen Eingriff und die nötigen Verhaltensänderungen, um von meiner Seite die Erfolgsaussichten eines weiteren chirurgischen Eingriffs zu verbessern. Knallhart wie noch nie zuvor prognostiziert mir eine erfahrene Krankenschwester noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von zwei Jahren, wenn ich meine tägliche Flüssigkeitszufuhr nicht endlich nachhaltig reduziere. So kann es auch nicht weitergehen: nach der Entnahme von fünfeinhalb Litern muss ich mich mit dem Rollstuhl zum Taxi schieben lassen, meine Lebensqualität ist nach solch einer Dialyse deutlich eingeschränkt. Ich muss endlich lernen, mit den Konsequenzen meiner Erkrankung leben zu lernen und mich auf die damit verbundenen Einschränkungen einzustellen.

Unfallfolgen

Zunächst das Positive: meine Anreisen zur Dialysestation reduzierten sich während der vergangenen Tage auf ein Verrollen meines Bettes innerhalb des Krankenhauses. Nach vier Tagen kann ich endlich meinen rechten Oberarm wieder halbwegs schmerzarm bewegen.

Allerdings bleibt jedes Beugen oder Drehen meines Körpers weiterhin sehr schmerzhaft. Die ersten drei Tage konnte ich mich überhaupt nicht aus dem Bett erheben, nach fünf Tagen blieb ich zumindest die zwei Minuten auf den Beinen, die sanitäre Notwendigkeiten benötigten - bis mich die unerträglich erscheinenden Schmerzen wieder ins Krankenbett zurückwarfen. Als sich der Gesamtzustand auch am Ende des sechsten Tages kaum zu bessern schien, bat ich um ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin. Das Ziel: welche Möglichkeiten gibt es, um einen Rekonvaleszenten wie mich weiter zu betreuen? Jemanden, der zu gesund für einen weiteren Aufenthalt im Krankenhaus, aber noch nicht gesund genug für eine weitere Genesung in der heimischen Umgebung ist. Das Ergebnis: am ehesten kommt für solch eine Betreuung noch eine "geriatrische Einrichtung" in Betracht. Bin ich wirklich schon so alt?

Die gute Nachricht: in der vergangenen Nacht sind die Körperschmerzen soweit abgeklungen, dass ich mich zumindest einige Minuten auf den Beinen halten kann. Medicus curat, natura sanat. Ich entlasse mich am siebten Tag selbst aus dem Krankenhaus.

Vermeidbare Schäden

Prolog:

Wie so häufig während der letzten Wochen fahre ich mit meinem Motorroller am frühen Mittwochnachmittag zur Dialyse in meiner Heimatstadt. Es hatte kurz zuvor geregnet, der Asphalt ist noch feucht und dunkel. Die Strecke führt teilweise über Wege und verkehrsarme Strassen, direkt an einer U-Bahn-Linie vorbei. In einer dieser Straßen steht am linken Rand ein weißer PKW, rechts verbleibt ein geräumige Fahrbahnbreite von zweieinhalb Metern. Ich bin vielleicht noch acht Meter von dem PKW entfernt, als unvermittelt und zügig hinter ihm eine weiße Stange in diesen Freiraum hineinfährt und die Fahrbahnbreite auf einen Meter reduziert. Ich versuche, noch zu bremsen und ziehe nach rechts, merke aber schnell, dass das Motorrad unter mir wegrutscht und ich auf die Bordsteinkante zuschleudere. (Ende des Prologs)

Ich komme wieder zu mir, als zwei Männer an meinen Armen zerren und mich aus der Böschung heben wollen. Das Motorrad steht bereits wieder, etwas absurd erscheint mir, dass der Motor weiterhin läuft. Hinter dem PKW liegt auf der Straße ein Rasenkantentrimmer. Ich sortiere langsam meine Gedanken, das Puzzle setzt sich zusammen. Einer der Männer war zuvor mit dem Trimmer, vor seiner Brust hertragend, ohne Rücksicht auf den Verkehr auf die Straße getreten. Spontane Schadenserfassung: Schmerzen in der gesamten rechten Körperhälfte, meine Knochen scheinen noch intakt zu sein, Scherben des Frontscheinwerfers liegen über die Straße verstreut. Ich setze mich auf die Bordsteinkante. Eine Zeugin meldet sich, ich notiere mir ihre Rufnummer. Ich rufe die 110 an, melde den Unfall. Wenige Minuten später höre ich die Alarmsirenen, gefolgt von einem Polizeiauto, einem Notarztwagen und einem Krankentransportwagen. Vage bekomme ich noch mit, dass die Polizisten Personalien erfassen und Beweisfotos machen, während ich zum Krankentransporter geleitet werde. Satzfetzen dringen in mein Bewusstsein: "Legen Sie sich erstmal hin." "Hier sind Ihre Papiere zurück." "Wo ist Ihre Krankenversicherungskarte?" "Wir haben Ihr Motorrad abgeschlossen." Die Türen des Krankentransporters schließen sich und die Fahrt zum Kreiskrankenhaus beginnt. Dort das (übliche?) Prozedere: Notfallaufnahme und Fragen nach den Symptomen, Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule und des rechten Beckenbereichs, Sonografie des Unterbauchs, später noch eine Computertomografie. Die Befunde: die gesamte rechte Körperflanke ist in Mitleidenschaft gezogen. Angefangen über die abgewetzten Socken im rechten Zehenbereich über handtellergroße Hämatome am Oberschenkel und einen großflächiges Bluterguss unter Hautabschürfungen im rechten Hüftbereich bis hin zu Schmerzen im rechten Schultergelenk. So ähnlich müsste sich mein Körper anfühlen, wenn er in eine herzhafte Prügelei geraten wäre ...

Epilog:

Die heutige Dialysesitzung begann später als geplant.